Ich hatte bereits 2014 hier beschrieben, auf was zu achten ist, wenn man ein Shift-Objektiv für Panoramafotografie einsetzt. Seither haben sich immer wieder Kunden mit speziellen Fragen dazu an mich gewandt. Denn leider gibt es seitens der Hersteller dieser Spezialobjektive keine wirklich brauchbare Information zu dem Thema, nicht einmal zum Bildwinkel.
Ich will hier anhand der Daten des 19mm PC-E Nikkors im Detail aufzeigen, wie man den maximalen Bildwinkel berechnet, der durch Shiften der Linse zu generieren ist und wie man die Teilbilder stitcht.
Nikon spezifiziert für das PC-E-Nikkor 19mm Brennweite und einen Bildwinkel von 97° am 35mm Vollformat. JEDES rectilineare 19mm-Objektiv hat diesen Bildwinkel am Vollformat ! Das ist der diagonale Bildwinkel - eine Spezifikation, die insbesondere bei einem Shift-Objektiv so unnütz wie sinnlos ist. Was den Fotografen interessiert, ist der vertikale Bildwinkel, der horizontale und bei einem Shift-Objektiv der maximale Bildwinkel nach Shiften im Hoch und Querformat.
Berechnung des Bildwinkels w
Zum Verständnis ist die Vorstellung hilfreich, dass das Objektiv mit einer Objektivschelle stabil im Raum auf dem Stativ befestigt ist. Das Objektiv stellen wir uns fest verbunden mit einer virtuellen Mattscheibe vor, die die Fokusebene (Sensorebene) definiert. Das Objektiv projiziert ein kreisrundes Bild mit ca. 68mm Durchmesser, den Bildkreis, auf die Mattscheibe. Die optische Achse "OA" steht senkrecht auf der Mattscheibe und schneidet diese genau im Mittelpunkt des Bildkreises.
Beim Shiften wird der Sensor auf der Mattscheibe gegenüber der OA verschoben.
In der Nullstellung des Objektivs (ohne Shift) liegt der Sensor in der Mitte des Bildkreises.
D.h. die OA schneidet den Sensor genau in dessen Mitte.
Bei einem Tilt-Shift-Objektiv wie dem PC-E Nikkor kann die Mattscheibe auch gekippt werden. Aber auf Tilt und Herrn Scheimpflug will ich hier nicht eingehen.
Die rectilieare (auch "gnomische") Projektion ist Funktion des Radius R, der Brennweite f und dem Winkel w: Ein Lichtstrahl, der unter dem Winkel w zur OA einfällt, wird als Lichtpunkt auf der Mattscheibe im Abstand R vom Mittelpunkt des Bildkreises abgebildet. Es gilt R=f*tan(w) und w=arctan(R/f). Der Bildwinkel ist 2w, also 2*arctan(R/f).
Beispiel: Ein Lichtstrahl fällt von schräg oben unter w=30° zur OA ein. Die Brennweite f ist 19mm. Dann wird der Lichtstrahl als Lichtpunkt auf der Mattscheibe im Abstand R abgebildet: R=19mm*tan(30°)=19mm*0,577=10,97mm.
Der Vollformatsensor misst 24mmx36mm. Wenn das Objektiv nicht geshiftet ist (Nullstellung) entsteht der Lichtpunkt dann also etwa 1mm von der Unterkante des Sensors.
Damit ein Lichtstrahl 12mm unter der Mitte genau auf dem Rand des 24mm hohen Sensors abgebildet wird, muss er unter 32,3° einfallen. Der vertikale Bildwinkel eines jeden rectilinearen 19mm Objektivs am Vollformatsensor beträgt daher 2*32,3°=64,6°.
Der horizontale Bildwinkel beträgt entsprechend 2*arctan(R/f)= 86,9° mit R=18mm (36:2=18) und f=19mm.
Die Diagonale des Vollformat-Sensors beträgt nach Pythagoras 43,3mm. Der diagonale Bildwinkel des 19mm-Objektivs beträgt entsprechend für R=(43,3/2)mm=97,4°.
Wie verhält es sich dann beim Shiften um +/12mm ?
Shiftet man den Sensor im Bildkreis vertikal um 12mm nach unten, trifft die obere Kante des Sensors genau die OA. Der Lichtstrahl, der entlang der OA einfällt trifft also die obere Kante des 24mm hohen Sensors. Für einen Lichtstrahl, der auf die Unterkante des Sensors abgebildet wird, beträgt R=24mm. Er fällt also unter einem Winkel w=arctan(24/19)=51,6° ein. Der vertikale Bildwinkel dieser ersten Aufnahme beträgt also 51,6°. Beim vertikalen Shiften des Sensors um 12mm nach oben sind die Verhältnisse entsprechend. Der mit zwei vertikal geshifteten Aufnahmen abgedeckte Bildwinkel beträgt also 2*51,6°=103,2°.
Da sich der horizontale Bildwinkel beim vertikalen Shiften nicht ändert, wird durch vertikales Shiften um +/-12mm mit zwei Aufnahmen ein Bildwinkel von 86,9°x103,2° erfasst. Die imaginäre Sensorfläche beträgt 48mmx36mm.
Entsprechend verhält es sich bei horizontalen Shiften. Da bleibt die vertikale Position unverändert in Nullstellung. Der vertikale Bildwinkel beträgt dann 64,6°. Aber der Sensor wird auf der imaginären Mattscheibe um 12mm nach links und rechts verschoben. Die rechte und linke Sensorkante liegen dann jeweils (18+12)mm=30mm vom Zentrum des Bildkreises entfernt: R=30mm, w=arctan(30/19)= 57,6°. Der horizontale Bildwinkel beträgt dann 2*57,6°= 115,3°. Durch horizontales Shiften um +/-12mm wird am Vollformatsensor also mit 2 Aufnahmen ein Bildwinkel von insgesamt 64,6°x115,3° erfasst. Die imaginäre Sensorfläche beträgt 24mmx60mm. Die beiden Aufnahmen überlappen dann in der Mitte des Bildkreises um 12mm.
In folgender Tabelle habe ich die so zu erfassenden Bildwinkel für Shift-Objektive mit verschiedenen Brennweiten dargestellt.
Brennweite f | 24x36 mm | diagonal | 48x36 mm | 24x60 mm |
17 mm | 70° x 93° | 104° | 109° x 93° | 70° x 121° |
19 mm | 65° x 87° | 97° | 103° x 87° | 65° x 115° |
24 mm | 53° x 74° | 84° | 90° x 74° | 53° x 103° |
28 mm | 46° x 65° | 75° | 81° x 65° | 46° x 94° |
35 mm | 38° x 54° | 63° | 69° x 54° | 38° x 81° |
45 mm | 30° x 44° | 51° | 56° x 44° | 30° x 67° |
60 mm | 23° x 33° | 40° | 44° x 33° | 23° x 53° |
Betrachtet man, wie die einzelnen Aufnahmen im Bildkreis liegen, ist auch klar, dass der Bildkreisdurchmesser mindestens 67mm sein muss, damit die 12mm Verschiebung sauber abgebildet werden. Die Hersteller geben nicht an, wie groß der Bildkreisdurchmesser tatsächlich ist, vermutlich ca. 68mm. Es handelt sich bei einem Shift-Objektiv also eigentlich um eine Linse für's Mittelformat.
Der große Bildkreis ist der wesentliche Kostenfaktor gegenüber einer normalen Linse fürs Vollformat mit 44mm Bildkreis.
Zum Vergleich habe ich in den 68mm Bildkreis verschieden große Kamerasensoren positioniert, Kleinbild, 55mm und 66,7mm.
Das Objektiv mit dem 68mm Bildkreis kann theoretisch die größten aktuell verfügbaren CMOS-Sensoren ausleuchten, bis hin zur 66,7mm-Klasse, z.B. Sony IMX411.
Wie generiert man dann ein Panorama aus zwei geshifteten Aufnahmen ?
Betrachten wir wieder zuerst die vertikale Shift.
Die beiden Aufnahmen liegen auf der imaginären Mattscheibe Kante an Kante übereinander im selben Bildkreis. So sollten sie auch gedruckt werden: Flach, Kante an Kante, ohne jede Bearbeitung, also ohne Stitchingprogramm. Angenommen der Sensor hat 24 MP, also 4.000x6.000 Pixel, dann legt man die beiden Bilder einfach in Photoshop oder Affinity Photo übereinander auf einer Leinwand von 8.000x6.000 Pixel. Soweit die Theorie. In der Praxis wird man dann die Naht doch etwas nacharbeiten müssen. Dieses Vertirama im Seitenverhältnis 4:3 könnte man - bislang nur theoretisch - mit einer einzigen Aufnahme einer Mittelformatkamera erstellen. Dazu bräuchte man ein Objektiv mit 19mm Brennweite, das es nicht gibt. Es sei denn, man adaptiert das PC-E Nikkor an eine Fuji GFX.
Etwas aufwendiger ist das Stitchen der horizontal geshifteten Aufnahmen, die ja 12mm überlappen. Auch diese können flach gestitcht werden, aber mit Überlapp. Dazu braucht man in o.a. Beispiel dann eine Leinwandgröße von 4.000x10.000 Pixeln. Das linke Halbbild mit 4.000x6.000 Pixeln liegt linksbündig fixiert in der unteren Ebene, das rechte Halbbild rechtsbündig in einer Ebene darüber. Wenn man dann die Deckkraft des oberen Bildes reduziert, kann man es mit der Maus justieren. Danach stellt man die Deckung wieder auf 100% und verbindet beide Bilder zu einem. Soweit wieder die Theorie.
Tatsächlich kann man das Stitchen auch PTGUI überlassen - wenn man weiß, was man tut. Mehr dazu im Teil 1. Dazu sollten die Bilder überlappen. Das erreicht man beim vertikalen Shiften durch eine dritte Aufnahme in Nullstellung.
Betrachten wir nun das aus +/-12mm horizontal geshifteten Aufnahmen generierte Panorama.
Es hat einen Bildwinkel von ca. 65°x115° und ist 4.000 Pixel hoch und 10.000 Pixel breit. In der Vertikalen beträgt also die mittlere Auflösung 4.000 Px/65° = 62 Px/Grad. In der Horizontalen beträgt die mittlere Auflösung 10.000 Px/115° also 87 Px/Grad.
Das kommt durch die rectilineare Projektion, die das Bild mit zunehmendem Bildwinkel dehnt. Man erkennt diese Dehnung sehr schön auf dem Bild links.
Die konzentrischen Ringe verbinden - ähnlich den Höhenlinien auf einer topografischen Karte - die Punkte auf der virtuellen Mattscheibe, die zum gleichen Einfallswinkel der Lichtstrahlen gehören. Wenn es keine Bilddehnung gäbe, hätten alle benachbarten Ringe den gleichen Abstand zueinander. Deren Abstand und damit die Dehnung ist umso größer, je weiter das Motiv von der OA entfernt ist und je kürzer die Brennweite ist.
Aus dem Grund verwenden wir das kleine Tele für Portraits und möglichst kein Weitwinkel. Fotojournalisten müssen aber nahe ans Motiv, also mit kurzer Brennweite fotografieren. Beim Gruppenbild drängen daher die Politiker in die Mitte. Keiner will als Querkopf am Bildrand abgebildet sein.
Entsprechend ist ein so generiertes Panorama mit 115° Bildwinkel zu den Rändern hin stark gedehnt. Eine Kugel wird am rechten oder linken Bildrand als liegendes Ei abgebildet, drei mal so lang wie hoch.
Beim flachen Stitchen „Kante an Kante“ bleibt die Projektion wie im Bildkreis erhalten. Stitcht man mit einem (wölbenden) Stitchingprogramm wie PTGUI, ist man letztendlich frei in der Wahl der Projektion, kann also auch eine Zylinderprojektion wählen, bei der die horizontale Dehnung rückgängig gemacht wird.
Man könnte allerdings auch das gleiche horizontale Panorama einfacher mit einem ganz normalen 28mm Weitwinkel im Hochformat am KISS Nodalpunktadapter aufnehmen. Mit 28mm im Hochformat kommt man auf den gleichen vertikalen Bildwinkel, dann aber mit einer höheren Auflösung von 6.000 Px/65° = 92 Px/Grad. Man bräuchte dann 4 Aufnahmen mit einer Schwenkwinkel von 36° (Rastung R10).
Fazit
Durch vertikales Shiften lässt sich mit einem Shift-Objektiv relativ einfach ein Vertirama, ein vertikales Panorama, im Seitenverhältnis 4:3 erstellen. Das - und die Möglichkeit des Tiltens - macht den eigentlichen Reiz eines solchen Objektivs für einzigartige Architekturaufnahmen aus. Vergleichbare horizontale Panoramen lassen sich dagegen viel einfacher mit einem single row Panoramasystem wie dem KISS und einem normalen Weitwinkel generieren.
Noch ein Satz zur Aufnahmetechnik mit Shift-Objektiv
Wie ich bereits erwähnt hatte, sollte bei der Aufnahme das Objektiv mit seiner OA fest im Raum stehen. Der Kamera-Body mit dem Sensor sollen dagegen verschoben werden. Doch leider haben fast alle Shift-Objektive kein eigenes Stativgewinde, auch nicht das hier zitierte PC-E Nikkor. Fixiert man stattdessen die Kamera mit dem Kameragewinde auf dem Stativ und verschiebt das Objektiv, werden die geshifteten Aufnahmen aus leicht veränderter Perspektive aufgenommen. Daraus resultieren zwangsläufig Parallaxenfehler beim Stitchen. Es gibt allerdings Anbieter von Objektivschellen passend zu den Shift-Objektiven, z.B. von Novoflex oder auch hier.
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